Wer sich früher im Job anpasste und anstrengte, stieg auf. Heute sind wir freier in unseren Entscheidungen – aber die Sicherheit ist weg. Ökonom Oliver Nachtwey warnt vor gefährlichen Konsequenzen.
SPIEGEL ONLINE: Herr Nachtwey, die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland sinkt seit Jahren. Trotzdem entwerfen Sie in Ihrem aktuellen Buch das Bild einer Gesellschaft, die von Abstiegsängsten geprägt ist. Wie passt das zusammen?
Nachtwey: Die Zahlen, die das Statistische Bundesamt oder dieBundesagentur für Arbeit liefern, täuschen über die Qualität der Arbeit hinweg. In den Fünfzigern waren 90 Prozent aller Arbeitsverhältnisse sogenannte Normalarbeitsverhältnisse – wobei es den Begriff damals gar nicht gab, weil man ohnehin davon ausging, dass alle Jobs unbefristet sind. Heute hingegen sind ein Drittel unsichere Jobs: Menschen hängen in Werkverträgen fest, sind befristet angestellt, verdingen sich als Leiharbeiter oder als Selbstständige. Wir leben in einer prekären Vollerwerbsgesellschaft, wie es der Jenaer Soziologe Klaus Dörre genannt hat. Außerdem sinkt die Lohnquote, das heißt der Anteil der Arbeitnehmer am gesamten Wohlstand hat abgenommen. Unsere Wirtschaft wächst zwar seit 50 Jahren beständig. Aber die Einkommen der Arbeitnehmer entwickeln sich nicht mehr entlang dieses Produktivitätszuwachses. Der Kuchen wird größer, aber nur für wenige. Die Realeinkommen sind fast 20 Jahre im Durchschnitt gesunken. Es stimmt also: Die Armen werden ärmer, die Reichen reicher.
SPIEGEL ONLINE: Wie kam es zu dieser Entwicklung?
Nachtwey: Es gibt nicht den einen historischen Umschlagspunkt. Aber einige zentrale Einschnitte, die die soziale Moderne beendeten. 1971 kündigte Nixon die Goldbindung des Dollar auf, die flexiblen Wechselkurse produzierten neue Instabilitäten, und es begann der globale Aufschwung der Finanzmärkte. Damals wurden in Deutschland Arbeitsmarktkrisen noch mit keynesianischen Programmen bekämpft. Diese Programme fruchteten aber in der Folge immer weniger.